Seit 5. Juli habe ich hier Einiges gesehen. So lange waren wir jetzt hier. Es sind ziemlich viele Menschen in die Kirche gekommen, um uns zu sehen, aber auch, um durch die Kirche zu gehen, sich hinzusetzen, sich zu besinnen. Manchen bin ich zunächst gar nicht aufgefallen. Manche haben gerne neben mir gesessen, vor allem bei den Gottesdiensten. Die vorne Stehenden aus unserer Besuchsgruppe wurden manchmal zur Seite gerückt: bei Trauungen und großen Konzerten. Ich konnte einfach sitzen bleiben.
Ich habe mich gewundert, was hier alles los ist. Ich erinnere mich an die Gospelnight im Juli, als die Kirche hier gerammelt voll war. An das Konzert der Chöre und den Einführungsgottesdienst der Konfirmanden vor den Ferien. Und an Jazz und Texte, als die Kirche wieder ganz voll gewesen ist – vor einer Woche.
Heute Morgen geht es mir gar nicht gut. Deshalb bin ich ja auch hierher gekommen. Bis der Gottesdienst begonnen hat, habe ich so getan, als ob ich im Gesangbuch läse. Meine Frau hat mir gestern Abend gesagt, sie halte es nicht mehr aus mit mir. Dass ich keine Nerven mehr hätte und dauernd rumschreien würde zuhause.
Was weiß sie denn von meinem Stress am Arbeitsplatz! Ich hab einpaarmal versucht, ihr was davon zu sagen, wie groß der Druck ist, den mir mein Chef macht. Da hat man abends keine Nerven mehr für Smalltalk und Zuhören.
Aber das war gestern Abend wie eine Mine, die plötzlich hoch geht. Warum hat sie früher nichts gesagt zu mir? Wo ist ihre Geduld, für die ich sie immer so bewundert habe? Ich habe ihr das nie gesagt. Hätte ich vielleicht mal tun sollen, Ihr sagen, was ich toll an ihr finde.
Da vorne am Altar haben wir geheiratet. Vor wie vielen Jahren war das noch? Ist ja auch jetzt egal. Von wegen: wo du hingehst, da will auch ich hingehen. Das war damals unser Trauspruch. War echt eine wirklich schöne Trauung. Der Pfarrer hatte sich so viele persönliche Sachen aus unserem Gespräch mit ihm behalten und alles in seine Rede eingebaut. Wir haben uns früher oft an unsere Trauung erinnert und ab und zu davon geredet. Die letzten Jahre dann nicht mehr.
Da war immer mehr Schweigen abends zuhause. Schweigen oder Krach.
Jetzt habe ich von der Predigt noch gar nichts mitbekommen. Hat schon längst angefangen. Wollte doch eigentlich wissen, ob er mir heute was zu sagen hat. Ist ja schon fast Aberglaube, zu denken, ausgerechnet mir sagt der Pfarrer heute eine wichtigen Satz. Wo über 100 Leute hier sind, die ganz andere Probleme haben oder eben gar keine Probleme in ihrem Leben.
Halt, was hat er da gerade gesagt: ihr sollt Gräben zuschütten und Brücken bauen, anstatt weit weg voneinander zu rücken in eurem Alltag. Von neuem lieben lernen und zuhören, das sollt ihr, und Gott traut euch das zu, wenn ihr Zukunft spüren wollt.
Eben hat er mich angeguckt. War echt nur ein Zufall. Er weiß ja von nichts. Nichts von dem, was gestern Abend bei uns los war.
Wie sollte er das wissen? Er redet doch Sonntag für Sonntag das Gleiche, und keiner hört ihm so richtig zu. Oder nicht? Kennt er das vielleicht selber: Streit und die Absicht sich zu trennen? Was er da sagt, klingt so, als ob er weiß, wovon hier die Rede ist.
Ihr sollt Gräben zuschütten und Brücken bauen, anstatt weit weg voneinander zu rücken in eurem Alltag. Von neuem lieben lernen und zuhören, das sollt ihr, und Gott traut euch das zu, wenn ihr Zukunft spüren wollt. Als ob er mich und meine Frau gemeint hätte. Ob ich ihr das erzählen soll nachher? Ob das was nützen kann?
Unseren Trautext haben wir beide damals sehr ernst genommen…Lieber Gott, ich fühl mich so elend, wenn sie wirklich geht. Hilf uns, dass wir es noch mal miteinander packen für ein paar Jahre. Hilf uns, Gott; wenn nicht du, wer sonst?