Die Kirche ist ein Raum für Menschen, die zur Ruhe kommen und mit einem inneren Gegenüber – mit sich selbst oder dem darüber Hinausgehenden – Zwiesprache halten wollen. In der Dankeskirche sind für wenige Monate auch andere stille Gäste zu sehen, die Skulpturen aus Pappelholz von Stephan Guber. Mit wem kommunizieren sie? Die Besucher der Kirche sind dazu aufgefordert, ja geradezu herausgefordert, den fremden »Besuchern«, wie der Künstler sie nennt, zu begegnen. Zunächst wird sich mancher irritiert fühlen, da sie dort nicht eigentlich hingehören. Skulpturale Kunst in Kirchen kennt man als Kruzifix, geschnitzte Altartafel und Kanzelrelief sowie als Teil der Architektur in Form von Grabplatten und Portalskulpturen. Nicht aber als bewegliche Teile, die neben einem in der Kirchenbank sitzen oder den Raum vor dem Altar einnehmen. Aus hellem Pappelholz, noch nicht durch Alter verwittert, und augenscheinlich auch keine Heiligen (wie würde denn ein solcher heute aussehen?), gibt ihre Präsenz an diesem Ort viele Fragen auf. Was ist der Mensch? Und wie steht es um das Verhältnis zwischen Mensch, Kunst und Religion?
Für Stephan Guber ist es ebenso klar wie für Joseph Beuys, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Und zwar nicht nur in potentieller Hinsicht, wie Beuys’ Ausspruch oft verstanden wird, sondern immer und überall – weil der Mensch nicht sein kann, ohne zu gestalten: Er erschafft seine Umgebung, seine Werkzeuge, seine Tätigkeiten und Kommunikationsweisen. Untrennbar damit verknüpft ist das Bedürfnis nach einem (Wieder)Verbinden mit dem, was über ihn hinausgeht, mit dem Ursprung. Und so kreiert der Mensch seit Anbeginn sowohl künstlerische als auch religiöse Formen. Beide sind im Grunde eins, sakrale Handlungen und Vorstellungen sind schöpferische Äußerungen.
In diesem Sinne umkreist der Künstler Stephan Guber das Thema Mensch in unterschiedlichster Weise, zunehmend in lebensgroßen Holzskulpturen und Figurenensembles. In seinem Werk geht es vor allem um den Aspekt der Beziehung, ja der Verflechtung zwischen Göttlichem und Menschlichem – um das Rätsel der Verbindung von beidem. Der Titel der hiesigen Ausstellung »ecce homo 2.0« bezieht sich natürlich auf den berühmten Ausspruch von Pilatus, »Sehet, der Mensch«, als er den gepeinigten Christus dem wütenden Volk vorführt. Gleichzeitig verweist er – mit der leicht ironischen Anspielung auf verbesserte Software-Versionen – auf eine frühere Ausstellung gleichen Namens, bei der das erste Mal nach den Umrissen der menschlichen Gestalt das Antlitz schemenhaft im Werk des Künstlers auftauchte. Beispiele aus dieser Zeit sind jetzt ebenfalls in der Dankeskirche zu sehen.
Nachdem Stephan Guber über viele Jahre Einzelskulpturen und Figurenzyklen geschaffen hat, die eine Anmutung früherer Kulturzustände haben, sind hier Menschen dargestellt, die schon weitgehend in der Gegenwart angekommen sind. Wenngleich ihre Körper mitunter nur in großen Zügen ausgeformt sind, zeigen ihre Köpfe individualisierte Gesichter, von denen einige sogar die Augen geöffnet haben. Sie schauen. Sie sind präsent. Guber geht es um die unausgesprochenen Fragen, die die Wahrnehmung seiner Werke hervorruft, besonders im Hinblick auf die Interaktion zwischen ihnen, den Betrachtenden und dem Ort, an dem sie erscheinen. So wie seine Menschenfiguren erst im Begriff sind, mit beiden Beinen auf der Erde anzukommen und mit einem eigenen Blick den Kontakt zum »anderen« herzustellen, nehmen wir mit dem Blick auf sie auch uns selbst im Werden wahr.
Dr. Anette Naumann, Bremen