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Gemeindebrief `GemeindeLeben´

Alle evangelischen Kirchengemeinden in Bad Nauheim und Ober-Mörlen geben seit Dezember 2023 einen gemeinsamen Gemeindebrief heraus, den Sie hier herunterladen können.

Die aktuellen Ausgaben in gedruckter Form erhalten Sie in den jeweiligen Kirchen und im Gemeindebüro. Die bisher erschienenen Gemeindebriefe der Bad Nauheimer Kirchengemeinden finden Sie unter den Abschnitten der jeweiligen Gemeinde (bitte oben klicken).

Interview mit Pfarrerin Susanne Pieper

Frau Pieper, unter anderem nach neunzehnjährigem Wirken in Bad Nauheim sind Sie sogar um ein paar Monate verfrüht in den Ruhestand gegangen. Wie fühlt es sich für Sie an, nicht mehr beruflich eingebunden zu sein und sich anderen Aufgaben zu widmen?

Es ist jetzt auf der einen Seite eine sehr große Entspannung eingetreten, in der nicht mehr so viele Termine wahrzunehmen sind, nicht mehr die Arbeitsfelder zu bedenken sind, in denen ich in den letzten Jahren tätig war. Und auf der anderen Seite fehlt natürlich auch ganz viel. Es fehlt der Anstoß von außen, es fehlen viele Impulse, es fehlen auch die vielen Gespräche, die ich Tag für Tag geführt habe, gerade mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit den Kolleginnen und den Kollegen. Das fällt mir schon sehr schwer. Zur Zeit kümmere ich mich intensiv um meinen Vater. Ich bin in einer komplett neuen Phase und ich glaube, ich bin da noch nicht wirklich angekommen. Es ist wahrlich ein Übergang, den ich noch nicht richtig fassen kann.

Ist Ihnen damals, als Sie von Norddeutschland nach Hessen gekommen waren, die Umstellung schwergefallen?

Nein. Überhaupt nicht. Bis auf den Punkt, dass ich die Ostsee vermisst habe und die frische Luft (lacht). Ich bin sehr, sehr gerne nach Hessen gekommen. Wir sind ja von Klausdorf - Schwentine (heute Schwentinental), wo wir zehn Jahre gewohnt und gearbeitet haben, erst mal nach Heppenheim an die Bergstraße gezogen. Ich bin, als wir umgezogen waren, nach zehn Dienstjahren in eine berufsfreie Zeit gegangen. Ich habe mich für sechs Jahre beurlauben lassen, weil unsere Kinder recht klein waren und mich gebraucht haben. Der Umzug war groß und vor allem sehr weit. Ich habe damals verstanden, was Umzug für Kinder bedeutet. Nämlich sie herauszureißen aus ihrem ursprünglichen Kontext, aus ihrem Freundeskreis, aus ihrer Schule, aus dem Kindergarten. Ich hatte damals das Gefühl, dass ich unsere Kinder in Watte packen und sie an den neuen Ort bringen musste. Ihnen Zeit lassen, sich zu verwurzeln. Sie mussten sich erst einmal neu orientieren. Eines unserer Mädchen dachte zunächst, wir ziehen nach Italien, weil es den südhessischen Akzent überhaupt nicht verstand. So war die Situation. Aber dass ich in die Beurlaubung gehen würde, habe ich entschieden, bevor wir nach Hessen umgezogen sind. Ich hatte begriffen, dass es für mich in der damaligen Zeit einfach schwer war, beides zu vereinbaren. Junge Mutter von drei kleinen Kindern und zugleich berufstätig zu sein.
Ich hatte im Norden zwar viel Hilfe: wir hatten eine Tagesmutter und es waren beide Großmütter da, die uns unterstützt haben. Aber trotzdem hatte ich den Eindruck, dass es für meine Kinder und für uns als Familie besser ist, wenn ich einige Jahre Pause mache und mich auf die Familienarbeit konzentriere. Von daher war es kein schwerer Schritt für mich. In Heppenheim hatten wir zudem eine wunderbare Nachbarschaft, die uns so freundlich aufgenommen hat. Mit ihr haben wir sehr, sehr schöne Zeiten verbracht. Ich war also tatsächlich sozusagen sechs Jahre ‚out of order‘.  Als die Kinder ein bisschen größer waren, sich gut eingefunden hatten und am neuen Ort gut verwurzelt waren, habe ich dann einige Jahre lang im Archiv des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes in Bensheim in Teilzeit gearbeitet. Zusätzlich habe ich Religionsunterricht an der Heppenheimer Grundschule gegeben und Vertretungsgottesdienste übernommen. Wenn ich zurückblicke, war diese Zeit für mich eine sehr wichtige Zeit. Es war eine gute Entscheidung, die Auszeit zu nehmen und mich auf die Kinder zu konzentrieren. Zumal mein Mann eine sehr anspruchsvolle Arbeit im Martin-Buber-Haus in Heppenheim hatte. Er war Generalsekretär des Internationalen Rates der Christen und Juden. Weltweit unterwegs. Von daher war ich dann auch gerne Familienfrau, Familienmanagerin, das hat mir gutgetan.

Sie haben sich in Ihrer Arbeit in hohem Maße für Geflüchtete eingesetzt. Wie bewerten Sie den Satz Ihres Kollegen Joachim Gauck, der als Bundespräsident sagte: „Unser Herz ist offen, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt?“

Ich glaube, dass er recht hat. Aber ich denke, in unserer heutigen Zeit und in unserer aktuellen politischen Situation ist es umso wichtiger zu sagen: Unsere Herzen sind offen und bleiben offen. Wir befinden uns momentan in einem politischen Diskurs, der sehr gefährlich werden kann. Wenn ich an dieses unsägliche Treffen in Potsdam von AfD-Politikern und Rechtsextremen denke, an ihre Fantasien und Pläne, Millionen von Menschen aus Deutschland zu deportieren, dann läuten bei mir alle Alarmglocken und ich kann nur ahnen, welche Ängste dadurch bei den Menschen hervorgerufen werden, die betroffen sein könnten. Dazu kommt, so war es in der Frankfurter Rundschau zu lesen, dass nach diesen Plänen sogleich diejenigen mit vertrieben sollen, die den Geflüchteten geholfen haben, sich hier zu integrieren. All das ist unfassbar. Es ist hanebüchen, wie es in Teilen unserer Gesellschaft gärt. Ich finde das wirklich hoch alarmierend. Unsere Möglichkeiten sind begrenzt, das ist klar. Und die Lösungen sind nicht einfach und müssen auf europäischer Ebene erfolgen. Trotzdem denke ich, dass Kirche in dieser Zeit die Aufgabe hat, klar für eine multikulturelle Gesellschaft einzustehen und schlichtweg die diakonische Aufgabe tun muss, den Geflüchteten, die zu uns kommen und bedürftig sind, zur Seite zu stehen, ihnen zu helfen.

Ich denke nicht nur an die Geflüchteten, die 2015 zu uns gekommen sind. Ich denke genauso an die Geflüchteten, die aus der Ukraine zu uns gekommen sind. Es war richtig, dass wir als Kirche zum Beispiel eines unserer Pfarrhäuser für Geflüchtete bereitgestellt haben. Wir haben als Gemeinde Bettwäsche und vieles andere Lebensnotwendige gesammelt. Ich finde, es ist für uns als Kirche eine elementare Aufgabe, an dieser Stelle Diakoniearbeit zu betreiben.

Ein anderer Punkt ist die Begleitung der Geflüchteten, die wir seit 2015 vollzogen haben. Es kamen Menschen zu uns, die zum Beispiel den Sprachkurs in den Räumen der Wilhelmskirche besucht haben. Wir haben damals dem Internationalen Bund in Friedberg unsere Räume zur Verfügung gestellt, damit dort von montags bis freitags jeden Vormittag Sprachkurse stattfinden konnten. Elementare Integrationsarbeit. Da war ja immer die Bude voll (lacht). Wir haben auch mehrere Willkommens-Nachmittage für Deutsche und Geflüchtete veranstaltet, um einfach Begegnungen zu ermöglichen. Über zwanzig Ehrenamtliche standen uns zur Seite. Auch Regina Reitz und Ursel Leichtweiß waren da sehr stark mit aktiv. Regina hat Spiele für die Kinder angeboten, während die Erwachsenen Zeit hatten zum Gespräch miteinander. In den folgenden Jahren haben wir etliche Geflüchtete in vielen Belangen unterstützt und darauf geachtet, dass sie auch bezüglich einer Ausbildung und einer Arbeitsstelle unterkommen.

Vor dem Hintergrund Ihres Wirkens würden wir gerne von Ihnen wissen, wie politisch und wie feministisch Kirche wirken sollte.

Also, ich glaube, Kirche wirkt immer politisch. Kirche sollte nicht parteipolitisch agieren. Da würde ich sehr, sehr vorsichtig sein. Aber ich finde, es ist wichtig, dass wir uns als Kirche klarmachen, welche Werte wir vertreten, welche Inhalte. Und diese Werte und Inhalte wirken durch unser Handeln immer hinein in unsere Gesellschaft und auch in die politischen Zusammenhänge. Ich finde es zum Beispiel wichtig, dass wir uns als Kirche an einer aktiven Erinnerungskultur beteiligen. Dass wir die Erinnerungskultur im Blick auf unsere Geschichte klar vor Augen haben. Und das ist immer politisch. Das ist gerade heute politisch.

Ich habe zum Beispiel vor einigen Jahren zusammen mit Meike Naumann den Gedenkweg für unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden entwickelt. Ich weiß nicht, ob das bekannt ist. Der Gedenkweg gehört seit einigen Jahren elementar zu unserem Curriculum. Wir haben gesagt, wir finden es wichtig, dass unsere Jugendlichen in unserer Stadt wissen und erfahren, welche Geschichte es zwischen 1933 und 1945 an diesem Ort gab. Unser Gedenkweg besteht darin, dass wir mit den Jugendlichen an einem Nachmittag, immer um den 9. November herum, zu drei verschiedenen Stationen gehen und dort mit ihnen Texte lesen und sie selber ein Gebet sprechen lassen, Kerzen entzünden und Rosen niederlegen. Das fängt an am alten Friedhof am Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus, dann gehen wir weiter zum Mahnmal an der Parkstraße, wo die Namen aller jüdischen Deportierten aufgeführt sind und lesen dort beispielhaft zwei Biografien von Menschen aus unserer Stadt. Dann führt unser Weg weiter zur Synagoge in das Foyer. Ich bin sehr dankbar dafür, dass das möglich ist. Beim letzten Gedenkgang hat uns ein junger Hausmeister geöffnet und wir konnten Zugang bekommen. Denn jetzt die Synagoge wegen der Gefahr von antisemitischen Anschlägen ja so besonders abgesichert. Im Foyer gibt es eine Erinnerungstafel für die Märtyrer, die unendlich vielen jüdischen Opfer der NS-Zeit. Wir gehen diesen Weg mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden ganz bewusst, um ihnen zu sagen: das ist Teil unserer Geschichte. Und es ist uns wichtig, dass ihr das wisst. Wir beenden unseren Weg ganz bewusst an der Synagoge, um ihnen zu zeigen: Hitler hat es nicht geschafft, diese Gemeinde komplett zu zerstören. Dass diese Synagoge den 9. November 1938 überlebt hat, ist für uns ein Hoffnungszeichen. Und so benennen wir das auch. Schon Mitte 1945 fand der erste jüdische Gottesdient wieder in der Synagoge statt. Dieses Thema ist für mich so ein Beispiel, wo ich sage, Kirche muss politisch sein. Gerade auch im Blick auf Klimagerechtigkeit und Klimawandel. Ich denke in dem Zusammenhang gern an die Fahrradgottesdienste und die anschließenden Rallys zurück, die wir zusammen mit dem ADFC hier in Bad Nauheim mit viel Freude in der Dankeskirche gefeiert haben. Das war auch ein Teil von ökologischer Bewusstseinsarbeit inmitten der Gemeinde. Es ist wichtig, dass wir als Kirche unser Wort erheben, dass wir weitestgehend Vorbild sein können und einfach mit dabei sind. Kirche ist immer auch politisch. Ja. Das leitet sich auch direkt aus der Bibel her. Eine der zentralen Botschaften für mich aus der Bibel lautet: „Gott steht an der Seite der Schwachen, Gott steht an der Seite der Unterdrückten und Gott ist ein Gott der Befreiung. Er will, dass Menschen befreit werden.“ Das besagt die gesamte Exodus-Tradition, die wir nie aus dem Blick verlieren dürfen. Und deshalb müssen wir als Kirche immer wieder danach schauen, wo wir uns für die Unterdrückten, für die Benachteiligten einzusetzen haben. Ja, das ist in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft nötig.

Zum Feminismus: (Überlegt) Für mich ganz persönlich ist wichtig, dass ich diesen Beruf als Frau überhaupt erwählen konnte. Damit fängt für mich das Ganze an. Dass ich als Frau Theologie studiert habe, das war damals nicht der mainstream. Wir Frauen waren damals im Vikariatskurs noch in der Minderheit und wir hatten sehr wenige weibliche Vorbilder. Die mussten wir uns schon suchen. Ich selber habe es im Vikariat einmal erlebt, dass ein Mann etwas später in den Gottesdienst kam und gesehen hat, dass dort eine junge Vikarin am Altar stand. Da hat er auf dem Absatz kehrt gemacht und ist wieder raus gegangen (lacht). Das habe ich aber nur einmal erlebt. Immerhin habe ich es bis heute nicht vergessen. Ansonsten habe ich es nicht erfahren, in meinem Beruf grundsätzlich in Frage gestellt zu werden. Ich finde es wichtig, uns klarzumachen und uns daran zu erinnern, dass die frühen Gemeinden im neuen Testament teilweise von Frauen geleitet wurden. Ich denke zum Beispiel an  Lydia, die Purpurhändlerin. Sie hatte eine Hausgemeinde. Es gab mehrere Frauen, die Hausgemeinden vorstanden. Paulus hat sie besucht. ‚In Jesus Christus ist weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau“, so steht es in Galater 3,28. Das ist für mich der zentrale Bibelspruch. Er sagt im Kern, dass in der christlichen Gemeinde das Geschlecht nichts gilt. Das ist für mich die Grundlage. Was Gaben, Aufgaben oder auch Ämter betrifft, geht es darum, ob Menschen sich durch den Geist Gottes berufen wissen. Das ist das Entscheidende. Das Geschlecht ist völlig unwichtig. Aber wenn jemand sagt: „Ich glaube, dass Gott mich berufen hat für diesen Dienst oder für dieses Amt oder für diesen Beruf oder für dieses Pfarramt. Ich glaube, dass Gott mich haben will,“ dann ist es das, worauf es ankommt. Zugleich finde ich es heute aber auch schade, dass es offenbar viel weniger Theologiestudenten als Theologiestudentinnen gibt. (So wie es auch viel zu wenige Männergruppen in den Gemeinden gibt.) Das macht mich nachdenklich. Was passiert da eigentlich? Warum ist dieser Beruf für junge Männer scheinbar nicht so attraktiv? Woran liegt das?  Ich denke, dass es wichtig ist, dass unsere Gemeindeglieder sowohl Männer als auch Frauen im Pfarrberuf erleben. Ich glaube, es ist etwas ganz Wichtiges, dass man und frau sich vertreten fühlt. bnn Wie feministisch soll also Kirche sein? Es ist eine große Frage. Auch weltweit. Ich erlebe das im Blick auf den Weltgebetstag immer wieder, Jahr für Jahr, wie wichtig es ist, dass die Rechte der Frauen endlich genügend berücksichtigt werden. Dass wir nach so vielen Jahren Weltgebetstag noch immer an diesen Missständen arbeiten, dass Frauen ihre Rechte nicht genügend vertreten sehen, dass sie oft mit Kindererziehung und paralleler voller Berufstätigkeit in vielen Ländern überlastet und überfordert sind oder sexuelle und andere körperliche Gewalt erleben müssen, immer noch und immer noch. Und in Deutschland gibt es an jedem 3. Tag einen Femizid! Das ist das, was mich zornig macht und manchmal wahnsinnig machen könnte. Da darf Kirche einfach nicht aufhören, den Finger in die Wunde zu legen! Und da muss sie auch mit anderen gesellschaftlichen Akteuren kooperieren. Gerade Jesus hat uns die Wertschätzung eines jeden Menschen gelehrt.

Auch Sie werden die neue Mitgliedsstudie der EKD im Herbst gelesen haben. Hat die evangelische Kirche Ihrer Einschätzung gemäß noch eine Zukunft?

Ja. Hat sie. Ich weigere mich, an dieser Stelle pessimistisch zu werden. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir auf Gott vertrauen. Und darauf, dass seine gute Botschaft auch weiterhin relevant ist und sich durchsetzen wird. Und dass Menschen davon angesprochen werden. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Kirche, weiterhin treu mit unserem anvertrauten Evangelium umzugehen. Ich glaube, dass wir als Kirche, dass jede Christin und jeder Christ in unserer Gesellschaft ganz wichtig und ganz wertvoll ist. Es kommt darauf an, dass wir unsere Leuchtkraft erhalten. So würde ich das mal nennen. Wir haben als Kirche und als Gemeinde eine Ausstrahlungskraft. Davon bin ich wirklich überzeugt und es kommt darauf an, dass wir uns das auch von niemandem ausreden lassen oder durch Zahlen schlecht rechnen lassen. Es ist entscheidend, dass wir diese Ausstrahlungskraft behalten und immer wieder erneuern lassen. Ich habe so ein Bild vor Augen: Wenn unter uns Christen und Christinnen die Liebe wirkt und die Wahrhaftigkeit und die Zuverlässigkeit und die Verbindlichkeit und die Ehrlichkeit, wenn diese Werte bei uns gelten und wenn wir an diesen Werten gemeinsam arbeiten, wenn uns bewusst ist, dass es im Grunde Gottes Liebe ist, die uns trägt und die uns verbindet, dann bin ich sicher, dass das eine Ausstrahlungskraft hat. Ich glaube, dass wir als Kirche nach wie vor wichtig sind und vielleicht auch immer wichtiger werden. Als Gegengewicht gegen die, ich nenne das mal zerstörerischen Kräfte, die auch in unserer Welt wirken. Das sehe ich ganz, ganz klar. Wir haben das Böse in unserer Welt. Trotzdem haben wir als Kirche die Chance, dem etwas entgegen zu setzen. Ich habe es in den letzten Jahren so erfahren, dass wir als Kirche und durch unsere biblische Tradition eine ganz enorme Quelle von Widerstandskraft haben. Resilienz ist der große Ausdruck dafür. Die ganze Bibel ist für mich in den letzten Jahren ein Zeugnis von Resilienz geworden. Das fing für mich mit der Coronakrise an. Diese Krise war für mich der klare Ausdruck von grundsätzlicher Infragestellung unseres gesamten bisherigen Lebens. Ich fand es unglaublich, was dieses Virus mit uns allen gemacht hat. Wir mussten uns völlig neu orientieren. Es ist daraus auch vieles Neues entstanden. Aber wir als Kirche zum Beispiel wurden doch wirklich auf Grundeis gestoßen. Keine Gottesdienste mehr, keine Besuche mehr in den Krankenhäusern oder in den Seniorenheimen. Es war alles in Frage gestellt. Bestattungen: In den schlimmsten Zeiten habe ich mit maximal fünf Menschen nur draußen im Freien mit drei Meter Abstand Beerdigungen durchgeführt. Die armen Familien mussten selber entscheiden, wen sie zur Beerdigung schicken und wen nicht. Für mich ist die Coronazeit ein Punkt gewesen, an dem wir als Kirche völlig neu gefragt wurden: wo sind eure Resilienzkräfte? Wo sind jetzt eure Kraftquellen? Aus dieser Motivation heraus sind zum Beispiel auch unsere Andachten entstanden. Alle Pfarrerinnen und Pfarrer im Kooperationsraum haben damals abwechselnd Andachtsimpulse geschrieben. Die wurden dann an den Gartenzaun der Pfarrhäuser gehängt und auf der Homepage veröffentlicht. Wir haben gemerkt, wenn wir jetzt nicht handeln, wenn wir jetzt nicht etwas sagen, dann sind wir weg vom Fenster. Ich glaube, wir sind durch die Coronakrise und auch durch den Ukrainekrieg, jetzt noch durch den Nahostkrieg dazu gefordert, ganz neu nach unserem Glauben und nach unseren Überzeugungen zu fragen und sie auch offensiv zu vertreten. Auch wenn sich das in den Zahlen vielleicht nicht wiederfindet, unsere Gesellschaft braucht uns als Kirche jetzt umso mehr. Ich habe das Gefühl, dass sich durch die Klimakrise, durch die kriegerischen Auseinandersetzungen und jetzt noch durch den Disput um Migration unwahrscheinliche Fliehkräfte in unserer Gesellschaft ausbreiten. Es droht uns in verschiedenste Richtungen auseinander zu reißen. Ich glaube, dass Kirche in dieser Zeit eine Gemeinschaft sein kann, wo Menschen sich wiederfinden können, wo sie Heimat finden können inmitten dieser enormen gesellschaftlichen Veränderungen. Und ich glaube, dass wir als Kirche Heimat bieten müssen. Durch die verschiedensten Formen, mit denen wir arbeiten. Menschen brauchen Heimat, Menschen brauchen besonders auch eine geistige und geistliche Heimat, sie brauchen Gemeinschaft, sie brauchen Zeiten und Räume, wo sie sich austauschen können, wo sie wahrgenommen werden, wo sie gehört werden. Und wo sie gesegnet werden. Dafür ist Kirche so unendlich wichtig. Gerade für Leute aus den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Ich habe versucht, das mit der Dinner-Church an einer Stelle anzubieten. Die Dinner-Church war für mich eine Form, wo Menschen aus verschiedenem Alter dabei waren, wo Deutsche und ausländische Bürger zusammentrafen, wo Gesunde und weniger gesunde Menschen zusammenkommen konnten. Das ist auch einige Male so richtig gut gelungen. Es war eine wunderbare Mischung bei den Dinner-Church Nachmittagen, wo man vorher nie wusste, wer jetzt kommt, und wo dann total tolle Begegnungen entstanden sind. Das war so schön und es hat so viel Spaß gemacht, weil es jedes Mal wieder anders war. Es war ein bisschen wie bei den Urchristen in der Hafenstadt Korinth damals. Wir haben zusammen gekocht, wir hatten Zeit miteinander zu reden, wir haben zusammen Abendmahl gefeiert. Wir haben ganz vieles geteilt. Wir haben Essen geteilt und Lieder, wir haben das Abendmahl geteilt, wir haben unsere Geschichten geteilt soweit jemand erzählen wollte, wir haben einen Bibeltext geteilt und unsere Gedanken dazu. Es war ganz viel Buntes, Kluges und Weises dabei und es war sehr integrativ. Das hat einfach ganz viel Freude gemacht. So stelle ich mir Kirche vor. Dass es ein Begegnungsraum ist und bleibt und Menschen einfach gerne dahin kommen.

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