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Geschichte der Wilhelmskirche

Die Kirche im Dorf

Von Erich Brücher, ergänzt durch Pfarrer Dieter Ruhland

Seit dem 4. Oktober 1733 hatte der Flecken Nauheim im Amt Dorheim der Grafschaft Hanau zwei evangelische Kirchen: die eine gehörte der lutherischen, die andere der reformierten Gemeinde. Die lutherische Kirche stand am Nordrand des Dorfes, gerade gegenüber dem „Reinhardsschloss", die reformierte Kirche stand etwa auf gleicher Höhe im Südosten, von dem ummauerten Gottesacker umgeben. Die reformierte Kirche war die ältere, zählte an die fünfhundert Jahre oder mehr. Das in Nauheim einst begütert gewesene Kloster Seligenstadt hatte sie noch in katholischer Zeit erbauen lassen und wahrscheinlich der Jungfrau Maria geweiht. Mit dem Lauf der Geschichte waren die Reformation und der Dreißigjährige Krieg darüber hingegangen, im Ergebnis war sie dem neuen Glauben reformierter Prägung zugeführt worden. Neben der neuen, gerade erst eingeweihten, auch baulich schöneren Kirche der Lutheraner bot die reformierte Kirche jetzt ein ärmliches Bild. Schon hundert Jahre vorher, um 1632, hatten die Nauheimer in Hanau beantragt, für ihre verfallende Kirche sammeln zu dürfen, der Einsturz drohte. Doch über den Kriegswirren und Meinungsverschiedenheiten über die Unterhaltspflicht für die Kirche war die Angelegenheit auf die lange Bank geschoben worden, gelegentliches Flickwerk hatte wohl oder übel genügen müssen. Dem reformierten Pfarrer Johannes Theobald konnte das alles nicht gefallen. Schließlich war seine Gemeinde doch die größere! Die ortsansässigen Lutheraner, vorwiegend Familien zugewanderter Salinenbediensteter, waren eine Minderheit im Dorf, erfreuten sich aber in Glaubensdingen der besonderen Gunst des Hanauer Grafen Johann Reinhard, des dritten dieses Namens, und hatten nicht zuletzt in dem Kammerrat Koch von dem Hochgräflich-Hanauischen Salzwerk einen besonders rührigen Verfechter für ihren Kirchenbau gefunden. Johannes Theobald war 26 Jahre alt, als er im Jahre 1735 in das 1708 erbaute Pfarrhaus einzog, es war seine erste und einzige Pfarrstelle. Fünfzig Jahre versah er sie, bis er 1785 starb.

Stadtgeschichtlich ist es die Zeit, in der die Grafschaft Hanau mit dem Tod des Landesherrn Johann Reinhard 1736 im Erbgang an die Landgrafschaft Hessen-Kassel fällt und von hier aus ein schon länger geplanter, groß angelegter Ausbau der Nauheimer Saline beginnt. Im Zuge dieser Maßnahmen wird auch ein junger Mann namens Johann Philipp Wörrishofer als Bauschreiber (Rechnungsführer) nach Nauheim beordert.

Um die gleiche Zeit lebten in Gelnhausen zwei heiratsfähige Gastwirtstöchter, Elisabeth und Philippine Köhler. Elisabeth wurde im Februar 1737 die Frau des Pfarrers Johannes Theobald, die Schwester Philippine zwei Jahre später die Frau des Bauschreibers Wörrishofer. So waren der Pfarrer und der Bauschreiber fortan miteinander verschwägert.

Neben seiner Tätigkeit auf dem Salzwerk kam der junge Wörrishofer aber auch rasch als ein tüchtiger Baumeister zu Ansehen. 1737-1740 wird das hübsche Friedberger Rathaus auf der Kaiserstraße nach seinen Plänen errichtet, ebenfalls der St. Georgsbrunnen in der Burg. Naheliegend also, dass der um den Bauzustand seiner Kirche besorgte Pfarrer seinen künftigen (oder gerade angeheirateten) Schwager freundschaftlich einmal darum anging, was in diesem Punkte geschehen könnte.

Wörrishofers einfacher Vorschlag lautete: Das alte Kirchenschiff abreißen und neu aufbauen, den Turm erhalten, aber umgestalten. Ein entsprechender „Riss" geht im August 1738 nach Hanau. Hier auf der Rechnungskammer werden durch Pfarrer Theobalds Schwager Gestehungskosten von 5.000 bis 6.000 Gulden veranschlagt - und für zu teuer erklärt. Die Rechnungskammer will nur Ausbesserungen, Baudirektor Christian Ludwig Hermann dagegen, dem das Bauwesen untersteht und nach dessen Plänen unlängst auch die Nauheimer lutherische Kirche errichtet worden ist, hält - mit Wörrishofer übereinstimmend - Ausbesserungen für ausgeschlossen.

Da war guter Rat teuer! Die lutherische Kirche war unter dem kirchen-baufreudigen Grafen Johann Reinhard mit dem sogenannten "Salz-Kreuzer" finanziert worden, einer Rücklage von einem Kreuzer von jedem Achtel-Sack Salz, der in Nauheim verkauft wurde. In Anbetracht dieser Finanzierungsmöglichkeit konnte Landgraf Wilhelm VIII. als neuer Landesherr hinter seinem so großzügigen Vorgänger nicht gut zurückstehen. Was dieser den Lutheranern gewährt hatte, bewilligte er jetzt den Reformierten: Durch Dekret vom 1. März 1740 ordnete er an, dass Baudirektor Hermann einen Plan macht und die Kosten veranschlagt. Hermann verwendet Wörrishofers Entwurf. Auch er will den alten Turm stehenlassen, nur das Schiff neu bauen. Die Kosten veranschlagt er auf rund 2.545 Gulden - kaum die Hälfte der früheren Berechnung. Und los geht's in Nauheim! Am 1. Juli 1740 wird Wörrishofer zum örtlichen Bauleiter bestellt, am 4. Juli beginnt man mit dem Abbruch des alten Schiffes, am 20. wird der Grundstein für die neue Kirche gelegt.

Nach Pfarrer Theobalds Aufzeichnung versammelte man sich vor dem Rathaus, in dem der Grundstein gelagert war. Junge Burschen und Mädchen, Schüler und Musikanten, „so auf Trompeten und Haut-bois geistliche Lieder bliesen", holten zunächst eine Krone, „so die jungen Burschen mit zwei vergoldeten Löwen hatten machen lassen". Diese Krone bringen sie zum Rathaus, „woselbst die ledigen Weibspersonen den Stein mit einer großen, von ihnen gekauften Decke aus Nesseltuch bedecken". Die Burschen setzen ihre Krone darauf, und in feierlichem Zug geht es zur Baustelle: Voran „die aufgebundenen Weibspersonen ledigen Standes", dann die Schüler und ihre Lehrer, dann die ledigen Burschen, dahinter die blasenden Musikanten. Ihnen folgt der Grundstein, „so von vier Burschen getragen wurde, welche weiße Handschuhe und Zitronen in den Händen hatten", hinter ihnen schreitet der Schulverwalter mit dem Kästchen, in dem die Denkschrift liegt, geistliche und weltliche Herren folgen, der Kirchenvorstand usw., „die sämtlich von den ledigen Weibspersonen erkaufte weiße Handschuhe und Zitronen empfangen". Am ausgegrabenen Fundament steht das Salinenkommando „mit aufgepflanzten Bajonetten", die vom Schulverwalter wohlverwahrt getragene Urkunde wird verlesen und eingemauert, Glockenläuten, Hammerschläge, Reden, Lieder, Musik, Gebet und Segen.

Aber schon fünf Wochen später muss Landgraf Wilhelm am 27. August 1740 eine Vollmacht unterschreiben, die den Pfarrer Theobald ermächtigt, statt bereits bewilligter 2.545 Gulden von dem Kammerrat Koch „zu dem Nauheimer Kirchenbauwesen ... in summa total sich auf 4.425 Gulden 24 Albi erstreckende Salzkreuzer zu empfangen und zu quittieren", - also rund 1.880 Gulden mehr als bisher vorgesehen! (Diese Urkunde liegt noch heute im Archiv der Kirchengemeinde). Entgegen der Planung hatte sich der alte Turm im Fortgang der Arbeiten als baufällig erwiesen. Also war man um einen neuen Turm „eingekommen", in diesem Zusamenhang aber mehr als nur das: Der alte Turm war ziemlich niedrig und stand östlich des Schiffes, der Glockenklang ging also talabwärts statt nach Westen, dem Dorfe zu, wo er hätte hingehen sollen. Diesem Übelstand, meinte Pfarrer Theobald, könne bei dieser Gelegenheit abgeholfen werden, wenn nämlich der neue Turm „nach dem Exempel der lutherischen Kirche ... vornen an die Kirche gesetzt würde", und nach dem Vorbild auch „das Wappen Ihrer Hochfürstlichen Durchlaucht in Stein gehauen über die große Tür „... gesetzt würde, gleichwie an der evangelisch-lutherischen Kirche ... mit dem Hochgräflichen Wappen auch geschehen". Aus Kostengründen wird das dann in Frankfurt gefertigt, nicht von dem „Bildhauer von Büdingen", woher die Quader kamen. Der Bauplan wird entsprechend geändert, die Baukosten schließlich mit 7.083 Gulden abgerechnet. Am 19. Oktober 1742 war „bey volkreicher Versammlung" die Einweihung. Sie stand unter dem Bibelwort:

Wisset ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid, und der Geist Gottes in euch wohnt? (1. Korinther 3, 16, Text der Einweihungspredigt)

Bei dem Bau der Wilhelmskirche wurde der Grundriss der alten Kirche im wesentlichen beibehalten, der Chorraum im Osten fiel jedoch weg. In der Absicht, eine evangelische Predigtkirche zu schaffen, verlegte man die Kanzel in die Mitte der südlichen Langseite. Unter ihr wurde der Altar angeordnet, ein umfriedeter Tisch nach reformiertem Brauch. Die Gemeinde zählte damals etwa 1.000 Glieder.

Weit höher als vorgesehen war der Kirchenbau am Ende über die vorgenannten Beträge hinaus mit Zinsen und Spesen gekommen: Alles in allem auf 8.948 Gulden, 15 Albi und 6 Pfennige. Landgraf Wilhelm bewilligte deshalb 1748 die Weiterzahlung des Salzkreuzers bis zur endgültigen Schuldentilgung 1756.

Die Orgel fertigte Philipp Wilhelm Macrander aus Frankfurt 1743. Sie wurde aus Spenden der Gemeindeglieder bezahlt und ist das einzige von diesem Orgelbaumeister (und Gastwirt zum Goldenen Bockshorn) bisher bekannte Instrument. Es wurde bis 1893 gespielt. Der reformierten Lehre entsprechend, war die Ausstattung der Kirche bescheiden, das Geläute wird als „nicht besonders eindrucksvoll" bezeichnet. Erst nach dem Umguss 1895 soll es „erbaulich und schön" gewesen sein. So hatte Nauheim seit dem 19. Oktober 1742 zwei von ein und demselben Baumeister herrührende, auch äußerlich einander sehr ähnliche Kirchen: die jetzt kleinere lutherische Kirche aus seiner Hanauer Zeit und daneben die größere reformierte Kirche aus den Tagen der Landgrafschaft Hessen-Kassel. Der Zusammenschluss der beiden evangelischen Glaubensrichtungen - der reformierten und der lutherischen - in der Hanauer Union im Jahre 1818 machte ja diese Trennung in Nauheim hinfällig. Auf der Suche nach neuen Bezeichnungen entschieden die Kirchenältesten beider Gemeinden, dass die Gotteshäuser die Namen der Landesherren tragen sollten, unter denen sie erbaut worden waren. Die lutherische Kirche wurde zur Reinhardskirche, die reformierte Kirche wurde zur Wilhelmskirche.

Unabhängig davon dienten die beiden Gotteshäuser unter ihren bisherigen amtierenden Pfarrern aber weiterhin nebeneinander dem gottesdienstlichen Gebrauch der jetzt unierten Gemeinde. Erst als der letzte, vordem reformierte Pfarrer Johannes Michael, Theobalds Nachfolger, 1825 starb, hielt dessen Nachfolger (und Schwiegersohn) Friedrich Wilhelm Wedekind nur noch Gottesdienst in der Wilhelmskirche als der größeren von beiden; die Reinhardskirche stand leer und blieb verlassen, bis eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende katholische Gemeinde sie mietete und für ihre Gottesdienste nutzte.

Um diese Zeit aber waren die Tage der Wilhelmskirche als Gottesdienststätte bereits gezählt. Trotz baulicher Veränderungen im Innern wurde sie gegen Ende des Jahrhunderts für die wachsende Stadt mit ihrem sommerlichen Badeleben zu klein. Kirchenrat Wissig, damals Pfarrer in Bad Nauheim, berichtet darüber: „Es war schön im alten Gotteshaus, das nur etwa fünfhundert Besucher fasste, wenn an Sonn- und Festtagen die Räume sich bis unter die Decke füllten, wenn im Sommer der Pfarrer kaum den Weg zur Kanzel fand durch die Besucher, wenn auch manchmal die Sakristei und die Kanzeltreppe besetzt war, wenn die Türen nach dem alten Wilhelmsfriedhof, dem jetzigen Vorgarten des (neuen) Pfarrhauses, geöffnet werden mussten und Kurgäste und Zuspätgekommene auf Stühlen aus Pfarrhaus und Nachbarschaft saßen und sangen und lauschten im Schatten der alten Ahornbäume und das Gezwitscher der Vögel sich widersprechend oder zustimmend in die Predigt drängte". So blieb es, bis die Raumnot den Bau der Dankeskirche forderte. Am 21. Juni 1906 wurde sie feierlich eingeweiht in Anwesenheit des Großherzogs Ernst Ludwig, dem Bad Nauheim viel verdankt.

Jetzt stand die alte Wilhelmskirche leer. 164 Jahre war sie Ort der Gottesdienste und reformatorischer Predigt gewesen. Sieben Pfarrer hatten von hier aus ihr Predigt- und Seelsorgeamt wahrgenommen. Leerstehend bot die Wilhelmskirche zunehmend ein trauriges Bild, auch wenn von ihrem Turm herab noch lange das Mittag- und Abendläuten die Zeit verkündete. Von einer Glocke abgesehen, war der Turm 1917 seines Geläuts beraubt worden, und die Militärverwaltung lagerte 1918 im Kircheninnern Pferdefutter und dergleichen, die Stadtverwaltung Möbel von Ausgewiesenen aus dem Rheinland und dem Saarland.  

Einige Ergänzungen seien noch angefügt:

Das alte, ursprünglich neben der Wilhelmskirche stehende Pfarrhaus wurde 1906 abgerissen und unter Otto Wissig durch das jetzige ersetzt. Der Türsturz des alten Hauses mit dem Wappen des Mainzer Domkapitels und der Inschrift ANNO 1708 ist heute in die Straßenmauer eingelassen.

Der Taufstein der alten Kirche steht heute in der Dankeskirche, ein Basaltmonolith aus der Zelt um 1200. Leider zubetoniert, hat er keine Funktion mehr. Ob er nicht wieder seinem ursprünglichen Zweck zugeführt werden könnte?

Der von manchen Passanten für einen Taufstein gehaltene behauene Stein vor dem Pfarrhaus Wilhelmstraße 10 b ist wohl ein alter Kultstein aus einer vorchristlichen Kultstätte an gleicher Stelle.

Im Innern der Wilhelmskirche erinnern heute nur noch zwei alte Grabsteine an die alte Kirche. Im Kreuzraum befindet sich der Grabstein des Pfarrers Nikolaus Lotichius (1617) und Frau Maria von Salms (1676), zwei weitere alte Grabsteine sind im Eingang der Dankeskirche aufgestellt, die vorher unterhalb der Wilhelmskirche ungeschützt im Freien standen.

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